Sonntag, 27. Januar 2008

Bikes für das 21. Jahrhundert

Während Jahren galt die Kettenschaltung für Mountainbiker als unvermeidliches Übel: Je mehr Gänge aufs Ritzel gepackt wurden, desto anfälliger wurde die Schaltung für Schlamm. Und nach Stürzen war schon mal das Ausfallende am Rahmen verbogen – und die Schaltpräzision somit dahin.

Höchste Zeit also, dass sich einige kluge Köpfe Gedanken über valable Alternativen machten, die den harten Bedingungen im Gelände eher gewachsen sind. Dabei erwies es sich als Problem und Herausforderung zugleich, dass der Mensch als Antriebsquelle bloss eine Leistung von 0.5 bis 0.66 PS auf die Pedale bringt. Ein hoher Wirkungsgrad ist darum Pflicht, Konstruktionen mit Kardanwellen und dergleichen sind nicht erste Wahl.

Zudem gilt es die Gewichtsverteilung im Auge zu behalten: Erste Versuche mit Rohloff’s «Speedhub»-Getriebenabe im Hinterrad bewährten sich nur bedingt. Die Bikes fuhren sich hecklastig, und das Zusatzgewicht in der Schwinge (wir sprechen hier in aller Regel von vollgefederten Mountain Bikes) verschlechterte zugleich das Ansprechverhalten der Hinterrad-Federung. Also war das Ziel für Kalle Nicolai, einen der findigsten Tüftler der Bikewelt, schon bald klar: Das Getriebe musste in den Rahmen integriert werden, und zwar so mittig und tief unten wie nur möglich.

Erste Schritte: Aller Anfang ist schwer (wortwörtlich)
Zugleich sollten das Getriebe und die Kettenlinie so nahe wie möglich beieinander liegen, um die Federung möglichst von Antriebseinflüssen zu isolieren. Ansonsten droht heftiges Aufschaukeln, wenn man voll in die Pedale tritt. Diese Vorgaben führten zuerst zu wenig ansprechenden Resultaten: Das Ur-Getriebebike «Nucleon» war noch definitiv keine Augenweide und provozierte Vergleiche mit Meccano-Baukästen und Baukränen, aber dennoch war dieses Bike seiner Zeit weit voraus.


Seiner Zeit weit voraus: Der Rahmen des Ur-Getriebedownhillers «Nucleon».

Wie bei dieser ersten Version wiesen auch die folgenden Evolutionsschritte noch einen offenen Primär- und Sekundärtrieb auf. Im Klartext: Die Tretenergie wurde von einer ersten kurzen Kette von der Kurbelwelle zum Getriebe übertragen, von wo dann eine zweite Kette zur Hinterradachse verlief. Das alles baute sehr breit und war optisch zwar extrem auffällig (ich hatte so ein Bike für 10 Tage zum Testen und wurde überall von Wildfremden auf das Teil angesprochen, auch mit der Frage, ob es einen Zusatzantrieb eingebaut habe), aber noch nicht so richtig der Bringer. Wer Kalle Nicolai kennt, diesen Daniel Düsentrieb des Fahrradbaus aus den kleinen norddeutschen Kaff Lübbrechtsen, der wusste: Die Entwicklung geht weiter.


Und die Entwicklung ging tatsächlich weiter: Zuerst rief Nicolai mit «G-Boxx» einen offenen Einbaustandard für Getriebeeinheiten ins Leben. Durch die Standardisierung der Einbaumasse sollten auch andere kleine Produzenten zum Experimentieren mit einer nunmehr komplett gekapselten Variante des Rohloff-Getriebes ermuntert werden. Bei der «G-Boxx» verschwand der Primärtrieb erstmals ganz im Rahmen, und nur die Kette zum Hinterrad war sichtbar. Noch aber waren die Rahmen verschachtelt und das Gewicht zu hoch.


Die EVOlution nimmt Fahrt auf
Also machte sich Kalle Nicolai zuerst einmal daran, den Rahmen seiner Getriebe-Downhiller massiv zu «entrümpeln» - das Resultat nannte sich «Nucleon EVO» und konnte unter den Nicolai-Teamfahrern und umlackiert als BiXS-Bike in der Schweiz eine Menge Siege einfahren. Zwar war das Gewicht nun wirklich konkurrenzfähig, aber der Preis dafür astronomisch und die Verfügbarkeit bestenfalls als homöopathisch zu bezeichnen. Die Kisten waren so exotisch wie edel und unbezahlbar. Die Fahrer des Schweizer Rennteams «iXS Sports Division» mussten gar besondere Versicherungen für ihre Wettkampfgeräte abschliessen.

Bis dato die letzte käuflich erwerbbare Evolutionsstufe: Nicolai's «Nucleon EVO».

Dafür waren diese Exoten an Downhill-Rennen auch für die Zuschauer immer wieder ein Erlebnis: Denn während bei anderen Bikes die Geräuschkulisse in ratternden Abfahrten geradezu beelendend ist (Kettenschlagen auf den Streben, Knacks-, Quietsch- und Schmatzgeräusche), hörte man bei den «Nulceon EVO»-Bikes nur das Schmirgeln der Gummistollen auf dem Untergrund und das hochfrequente Pfeifen der Scheibenbremsen – sehr beeindruckend.

Und nun an die Details - «G-Boxx II»
Noch blieben aber zwei Kritikpunkte: Erstens war das Rohloff-Getriebe nicht nur relativ schwer und sperrig. Es trug auf Grund der qualitativ hochstehenden Fertigung «made in Germany» zum hohen Preis bei – und bot für reine Abfahrer eine viel zu grosse Gangauswahl. Schliesslich decken die 14 Rohloff-Gänge das gleiche Spektrum ab wie eine 27-Gang-Kettenschaltung von Shimano oder SRAM. Also galt es, ein eigenes Getriebe zu entwickeln, das weniger Gänge bietet, kompaktere Einbaumasse aufweist, sich günstiger produzieren lässt und im Idealfall einen ergonomisch überzeugenderen Schalthebel als das Rohloff-Original zu bieten hat. So weit einmal das Pflichtenheft. Mit «Universal Transmission» hatte Nicolai bereits ein Tochterunternehmen ins Leben gerufen – und ein selbstentwickeltes Getriebe inklusive Bauplänen an SR Suntour verkauft, die das Teil nun mit einiger Verspätung als bezahlbare «V-Boxx» auf den Markt bringen.




Der Käfer unter den Getrieben: SR Suntour's «V-Boxx».

Zugleich wurde weiter an einer HighEnd-Lösung getüftelt, die erstmals im September 2007 an der Eurobike präsentiert wurde. Die «G-Boxx II» ist tatsächlich deutlich kleiner und leichter, bietet «nur» noch sieben Gänge und richtet sich damit an Downhiller und Bikepark-Cowboys. Zudem glänzt sie mit einem aufwändig gefrästen Drehgriff, der mit einer knallharten Indexierung der Gänge zu gefallen weiss. Kein diffuses Rühren im Getriebe mehr wie mit dem Rohloff-Drehgriff, statt dessen ein klar spürbares Einrasten der Gänge. Ein eigener Trigger-Schalter, bei dem die Gänge auf Knopfdruck gewechselt werden, soll sich noch in Entwicklung befinden.
Klar spürbar sind die Gangwechsel aber NUR im Schalthebel, was die nächste grosse Überraschung auf einer kleinen Testrunde durch die Messehalle war. Denn die Wunderbox schaltete nicht bloss ruckfrei, sondern auch blitzschnell. Wow, da kommt «Universal Transmission» der Sache schon verflixt nahe…

Wie genau diese erstaunliche Performance erzielt wurde, wollte in Friedrichshafen aber noch niemand verraten – noch musste die von angehenden Ingenieuren in Praktika erarbeitete Technologie patentiert werden. Das schien angesichts unzähliger Asiaten, welche sich sehr lebhaft für die Getriebeeinheit interessierten und sie aus allen Winkeln ablichteten, auch ratsam.
Der Schleier der Geheimhaltung wird gelüftet
Als Weihnachtsgeschenk an alle Tech-Nerds ist nun per 24. Dezember das Geheimnis gelüftet worden – in Form eines 12.5MB-Clips, der auf der «G-Boxx»-Website zum Download bereit steht. So schematisch die Animation ist, so klar wird eines: Dank der Verwendung magnetischer Impulse konnte der Schaltvorgang erheblich beschleunigt und das Innenleben des Getriebes wohl massiv entschlackt werden. «Universal Transmission» behauptet, dass die «G-Boxx II» alleine schon 800 Gramm gegenüber dem Rohloff-Getriebe einsparen helfe – was ein Quantensprung wäre und sich unter anderem mit der Verwendung leichter, kohlefaserverstärkter Zahnriemen im Innern der Getriebebox erklären liesse.





Der Messe-Prototyp mit der «G-Boxx II», auf dem auch ich eine Runde drehen durfte.

Neben einem ersten Prototypen von Nicolai waren noch ein «Getriebe-Pudel» von Alutech sowie ein Downhiller der spanischen Marke MSC als erste mit der neuen «G-Boxx II» am Start. Auch Orange und Diamond Back zeigen grosses Interesse an diesem neuen Getriebe, während andere Hersteller wie GT, NOX und Solid auf Getriebe von Shimano setzen. Doch nun zeigt Nicolai eine Adaption des neuen «Ion»-Downhillbikes für diese Getriebeinheit – und die macht Lust auf mehr. «Ion GB II» wird das Teil heissen, und wohl zu einem der meistdiskutierten Getriebehobel der kommenden Saison werden. Leider existieren erst CAD-Zeichnungen dieses Boliden, aber diese will ich den Besuchern des Blogs nicht vorenthalten.



Mein Fazit: Zumindest zum Runterballern sind die Getriebebikes DIE Lösung der Zukunft.

Und so kann ich dem folgenden Satz aus der Pressemitteilung von Nicolai nur zustimmen: «Mittlerweile haben auch die Skeptiker und Zweifler erkannt, dass die im Rahmen integrierte Getriebeschaltung die nächste große Bike-Innovation nach der Federung und der Scheibenbremse ist, die das Potential hat, den Mountainbikesport zu revolutionieren.»
Ich bin gespannt – und bleibe dran!

Hier gehts noch zu einem Web-Artikel von mir zu neusten Entwicklungen in Sachen Getriebebikes.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen