Dienstag, 23. März 2010

Schweizer Geschichte – welche darfs denn sein?

Zur Zeit berät der Nationalrat über das Einbürgerungsprozedere – und die bürgerlichen Parteien liefern sich mal wieder einen Verschärfungs-Wettkampf. Dabei schwingt die SVP (wie nicht anders zu erwarten) mit einem besonders blöden Vorschlag obenaus.

Die Schweizermacher sind mal wieder ausser Rand und Band: Denn das Schweizer Bürgerrecht ist etwas so exquisites, das muss man sich gefälligst verdienen. Und das nicht nur durch lächerlich anmutende Wohnsitzfristen (eine Senkung von 12 auf 8 Jahren macht viele Herrschaften schon sehr nervös, und das auch in den Reihen von CVP und FDP) und Tests, bei denen neben dem akzentfreien Dialekt auch Kenntnisse über das Wesen und Funktionieren der Schweiz als demokratisch-föderalem Musterstaat ein Kriterium sind.

Neu will die SVP Einbürgerungswillige auch noch mit Fragen zur Schweizer Geschichte löchern – und da wird’s unfreiwillig komisch. Denn es zeichnet die Schweiz eben gerade aus, dass es nicht «EINE Geschichte der Schweiz» gibt: Vielmehr existieren nebeneinander eine hochselektive, vieles ausblendende und partiotischen Sinn stiftende Geschichtsfolklore sowie eine weit widersprüchlichere, eigentlich nur an Universitäten vermittelte Geschichte des Raums Schweiz.

Prägten das Bild der misstrauisch im Privatleben Einbürgerungswilliger herum schnüffelnder Beamter:
Walo Lüönd und Emil Steinberger, unterwegs als Schweizermacher.

Die von der SVP gehätschelte und bis heute in der Primarschule vermittelte Geschichtsfolklore dreht sich um die Fixpole 1291 (Rütlischwur), 1315 (Schlacht am Morgarten), 1386 (Schlacht bei Sempach) und 1515 (Schlacht bei Marignano) – und bricht dann mit Niklaus von Flüe’s «Stecket den hag nicht zu wiit» als aus der Niederlage geborene Selbstbescheidung abrupt ab. Angereichert wird diese Geschichte als Abfolge von Schlachten gerne noch mit den Burgunderkriegen und weiteren Schlachten, etwa derjenigen bei Näfels.

So mags die SVP: Schweizergeschichte als Mix aus Wunschdenken, Helden sowie
Blut- und Bodenmentalität, gerne mit einem Schuss Frömmigkeit.

Innerschweizerische Konfessionskriege, das über Jahrhunderte andauernde Söldnerwesen, Verwicklungen in kontinentale Konflikte (erinnert sei an Jürg Jenatsch zur Zeit des 30jährigen Krieges), die Emigration von Schweizern nach Übersee, die Unterdrückung und ökonomische Ausbeutunng der Untertanen-Gebiete (zB des Thurgaus, des Aargaus, der Waadt) durch die alten Orte der Eidgenossenschaft, die Helvetik, der Sonderbundskrieg und die Geschichte des noch jungen Bundesstaates hingegen sind lauter nicht ins hehre Bild passende und daher ausgeblendete Aspekte, die dafür im universitären Diskurs zur Geschichte des Raums eine umso zentralere Rolle spielen.

Hat mit dem Werden der Demokratie in der Schweiz weit mehr zu tun
als alle alten Eidgenossen zusammen: Der oft als Verräter verfemte Peter Ochs.

Daher frage ich die SVP, welche Geschichte denn bei Einbürgerungswilligen präsent sein und im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens abgefragt werden soll: Eine hochgradig politisierte, nationalfolkloristische, aber wissenschaftlich längst überholte und unhaltbare Darstellung, in der vom Rütlischwur bis zur selbstgewählten Neutralität nach der Niederlage von Marignano alles seinen geordneten, widerspruchsfreien und linearen Gang geht? Wo Schlagworte wie «700 Jahre Demokratie» die Runde machen? Und die vor 500 Jahren abrupt abbricht, weil da die Schweiz als aussenpolitischer Eunuch bereits Realität ist?

Kein Winkelried weit und breit, dafür Schweizer, die aufeinander schiessen:
Szene aus der Schlacht bei Geltwil (1847).

Oder eine mit den Nachbarstaaten immer wieder eng verflochtene Geschichte einer Nation voller innerer Widersprüche, die den Willen zum Zusammenleben erst erlernen musste? Einer Nation, welche die Demokratie von den Franzosen und die Neutralität vom Metternich’schen Kongress-Europa verordnet bekam und mitnichten aus freien Stücken wählte? Und die erst in Folge eines inneren Konflikts zu einem geschlossenen Staatsgebiet wurde – in jenem Jahr 1848, das für ganz Europa eine grosse Rolle spielt?

Der wahre Einiger der Schweiz: Guillaume Henri Dunant, vom Freisinn zur Liquidierung
des Sonderbundes bestellter General, grossgeworden in Napoleon's Diensten.

Gerne lade ich die selbsternannten Hüter der schweizergeschichtlichen Nabelschau dazu ein, im Detail darzulegen, welche Schweizergeschichte sie zu prüfen gedenken. Wenn es dabei um längst widerlegte Idealvorstellungen geht, um einen Forschungsstand wie vor 50 Jahren, dann schlage ich vor, dass die betreffenden SVP-Exponenten sich erst einmal selbst in Sachen Geschichte der Schweiz und aktuellem Forschungsstand auf den neusten Stand bringen, ehe sie vertiefte Kenntnisse in dieser Hinsicht von Einbürgerungswilligen verlangen.


PS: Irgendwie hat die SVP ja schon recht, denn wenn die Schweiz im 19. Jahrhundert bei der Vergabe der Staatsbürgerschaft etwas restriktiver gewesen wäre, müssten sich jetzt die Deutschen mit Leuten wie Blocher oder Schlüer herum schlagen.

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